Seiten

Waren das "Buch mit sieben Siegeln" und der reale Komponist Franz Schmidt für Thomas Mann Vorbilder für die in seinem Roman "Dr. Faustus" beschriebene Komposition "Apocalipsis cum figuris" und deren fiktiven Komponisten Adrian Leverkühn?

Nur wenige Sätze im Internet genügten für einen "Verdacht", der einen intensiven, spannenden "Indizienprozess" nach sich zog. Für Liebhaber derartiger "Krimis" sei hier - ganz unwissenschaftlich - ein Erkenntnisweg bis hin zum den "Fall" abschließenden "Urteil" nachgezeichnet.

Folgende Hintergrundinformationen erleichtern sicherlich das Verständnis einiger "Indizien":
  • Adrian Leverkühn, die Hauptperson des Romans "Dr. Faustus", ist ein fiktiver Komponist, der aus ausgewählten Eigenschaften einiger anderer Personen "montiert" wurde. Zu diesen Personen gehört neben Nietzsche und Thomas Mann auch der Komponist Arnold Schönberg.
  • Im Wien zwischen den beiden Weltkriegen gab es zwei musikalische Strömungen: Schönberg, Webern und Berg lösten Tonsysteme auf, während Schmidt, Pfitzner und Reger trotz neuer Klangsprachen das tonale System beibehielten. Schönbergs Zwölftontechnik ist wichtige Inspirationsquelle für den fiktiven Kompositionsstil von Leverkühn.
Doch nun zu den "Indizien": Auf den ersten Blick sind die Parallelen zwischen Franz Schmidt und der Romanfigur Leverkühn sowohl hinsichtlich ihrer Biografien als auch hinsichtlich der beiden Werke "Das Buch mit 7 Siegeln" und "Apocalipsis cum figuris" verblüffend:
  • Schmidt ist zwar nicht der erste, zu Manns Zeiten aber wohl der bekannteste Komponist, der eine umfassende Version der Johannes-Offenbarung vertonte.
  • Schmidt und Leverkühn verbinden in ihren "Apokalypsen" alte und neue Kompositionstechniken ("neuigkeitsvolles Zurückgehen" / "Doppelgesicht von Vergangenheit und Zukunft"). Das Traditionelle ist bei beiden der Rohstoff, aus dem neue Klanggebäude gebaut werden.
  • Wir finden im Roman und in Schmidts Komposition Fugen, eine große Tenorpartie, die "Kälte" von Kirchentonarten, Gregorianik und Posaunen.
  • Leverkühn wählt – explizit anders als für frühere Werke - als Verlag die Universal-Edition in Wien. Schmidts Oratorium wird ebenfalls von der Universal-Edition verlegt.
  • Die Wiener Musikzeitschrift "Anbruch" hat über Schmidt und einzelne seiner Werke 1920, 1924 und zweimal 1934 Artikel veröffentlicht. Auch dem Schaffen Leverkühns wurde im "Anbruch" vor Vollendung der "Apocalipsis cum figuris" ein imaginärer Artikel gewidmet.
  • Die Stadt Pressburg spielt im Leben von Schmidt (Geburtsort) und Leverkühn (zweites, entscheidendes Treffen mit Esmeralda) eine wichtige Rolle.
  • Schmidt und Leverkühn wandten sich beide nicht aktiv gegen die politischen Strömungen ihrer Zeit. Zu beider Leben passen die Frage nach den Zusammenhängen zwischen "Ästhetizismus und Barbarei" und die Frage nach Gefahr und zu zahlendem Preis, wenn man als Komponist die eigene Kunst den falschen Händen ausliefert.
  • Schmidt hat den Tod seiner Tochter in seiner 4. Sinfonie kompositorisch verarbeitet. Auch für Leverkühns Schaffen spielt der Tod eines Kindes eine wichtige Rolle.
  • Die Reihenfolge der letzten Werke beider Komponisten waren: 1.) ein Oratorium über die Offenbarung 2.) eine Mischung aus Kompositionen auf Wunsch eines Bekannten und Kammermusik und 3.) als letztes Lebenswerk: eine Kantate.
  • Schmidt und Leverkühn (so wie auch Thomas Mann) waren alle schwer krank, als sie sich mit apokalyptischem Gedankengut beschäftigten.
Der "Detektiv" forscht weiter und entdeckt interessante Beziehungen zwischen den beteiligten Personen:
  • Franz Schmidt war mit Schönberg bekannt. Er übernahm die zweite Cello-Stimme bei der Uraufführung der "Verklärten Nacht" - ein Werk, das auch Thomas Mann kannte.
  • Schmidt war zwischen 1927 und 1931 als Rektor der Wiener Musikakademie eine bekannte musikalische Größe in Österreich.
  • Nahezu zeitgleich war Adorno von 1928 bis 1931 leitender Redakteur der o.g. Wiener Musikzeitschrift "Anbruch". Er war ein Bewunderer Schönbergs und beriet Thomas Mann beim Verfassen der musikalischen Passagen des "Dr. Faustus". Mann übernahm Adornos Ausführungen z.T. wörtlich.
  • Thomas Mann und der einarmige Pianist Paul Wittgenstein, für den Schmidt zwei Auftragskompositionen der Vollendung seiner letzten Kantate vorzog, trafen im amerikanischen Exil - also nach der Uraufführung des "Buches mit sieben Siegeln" - bei einem Strandspaziergang aufeinander. 
Das Internet und die Mannschen Regalmeter in der Zentralbibliothek lassen allerdings in längeren "Verhören" auch "Entlastungszeugen" zu Wort kommen:
  • In der Sekundärliteratur findet sich kein Anhaltpunkt dafür, dass Thomas Mann von Franz Schmidt Notiz genommen hätte.
  • Adornos Einstellung zu den beiden Wiener Musikrichtungen legt nahe, daß er Schmidt Mann gegenüber nicht erwähnt hat.
  • Der Titel von Leverkühns Komposition bezieht sich ausdrücklich auf Dürers Holzschnitt-Serie. (Auf Dürer wird im Faustus auch in anderen Zusammenhängen mehrfach Bezug genommen.) Mann hat also nicht allein des Titels wegen für seine „Leverkühn-Collage“ auf den Komponisten Schmidt zurückgegriffen.
  • Als ein weiteres mögliches Vorbild für Leverkühn wurde nun ein Komponist gesucht, der ebenfalls "progressiv und regressiv in einem" komponierte. Dieses Kriterium erfüllt neben Schmidt auch Hans Pfitzner, der Komponist der 1917 uraufgeführten Oper "Palestrina". Pfitzner war im "Anbruch" wegen der Debatte über Neue Musik, die seine 1920 erschienene Streitschrift "Die neue Ästhetik der musikalischen Impotenz: Ein Verwesungssymptom?" auslöste, viel präsenter als Schmidt. Er war 1925 Gast auf Manns 50. Geburtstag, unterschrieb später jedoch den Münchner Protest gegen dessen Wagner-Vortrag und trug so mit zu Manns Flucht ins Exil bei. Dieser politische Dissens zwischen Pfitzner und Mann würde das 25. Kapitel auch als "Nachtrag" zu Manns "Palestrina-Essay" erklären: Der Schauplatz des Teufelsgesprächs fungiert als "hidden symbol" für das Thema, das Mann von seinem 1917 geschriebenen Essay an bis zum Ende seines kreativen Lebens begleitet: die Trennung von Kunst und Welt. Manns Alter-Ego Leverkühn entscheidet sich im Dr. Faustus für eine radikale Lösung.
  • Die Entstehungsdaten von fiktiver Roman-Komposition (1919) und dem "Buch mit sieben Siegeln" (1935-1937) passen - insbesondere im Hinblick auf die zeitliche Nähe zum 2. Weltkrieg - nicht zusammen.
  • Schmidt vertont den Gegensatz zwischen Gut und Böse durch die gezielte Verwendung von Diatonik und Chromatik, während Leverkühn - paradoxerweise - Dissonanzen für alles Hohe, Ernste, Fromme und Geistige verwendet und das Harmonische und Tonale der Hölle, der Banalität und dem Gemeinplatz vorbehält.
  • Schmidt hält sich sehr nahe am biblischen Text, lässt aber auch Passagen aus, die Leverkühn vertont. Leverkühn bezieht einige andere Bibelstellen (Apokryphen, Hesekiel, Jeremias) und weitere Literatur (z.B. von Dante) mit ein.
  • Die Grundausrichtung der Kompositionen (Heilsgewissheit bei Schmidt ohne Angst vor dem Ende der Welt - am deutlichsten wohl im "Halleluja" zu hören / der Weltuntergang bei Mann/Leverkühn mit dem Anspruch, "ein Résumé aller Verkündigungen des Endes" zu ziehen) ist sehr unterschiedlich.
Schlussfolgerung: Die "Indizien" reichen für eine "Verurteilung" nicht aus. Auch der Zeitgeist kommt als "Täter" in Betracht.

Was dem "Detektiv" bleibt, ist die nachhaltige Begeisterung für ein polyphones Werk der Weltliteratur, in dem Worte zu abstrakter Musik veredelt werden: die Beschreibung der "Apocalipsis cum figuris" ist in A-B-A-Form gestaltet, die vielen Leitmotive (Kälte, Lachen, Erröten, Augenfarben, Frisuren, ...) und deren Variationen durchziehen das Buch wie eine Wagner-Oper, erzeugen Assoziationen in Richtung Vergangenheit und Zukunft. Die beim ersten Lesen dieses Buches gewonnenen Erkenntnisse werden den zweiten Durchgang in einigen Jahren dann bereits ab Seite 1 zu einem Genuss werden lassen!

ʞʞ